Vor wenigen Tagen nahmen unser Landesvorsitzender Arnfred Stoppok und der Kommunikationsbeauftrage André Owczarek auf Einladung des Selbsthilfeverbandes Forum Gehirn e.V. an einem parlamentarischen Abend mit Vertretern der Bundesministerien für Gesundheit (BMG) und Arbeit und Soziales (BMAS) in Berlin teil. Daneben geladen waren u.a. weitere Vertreter der Selbsthilfe, der Wissenschaft, der Rechtspflege und auch der Gesetzlichen Krankenkassen in Form der GKV. Der Fokus der Veranstaltung lag dabei auf der Herausforderung, die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherungen künftig verlässlicher in ganzheitliche Teilhabeplanungen zu integrieren.
Teilhabeplanung und Teilhabeplan
Teilhabeplanung in Deutschland bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen oder besonderen Bedürfnissen Unterstützung erhalten, um aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Es geht darum, dass diese Menschen genauso wie alle anderen die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen, zu arbeiten, in ihrer Freizeit Hobbys auszuüben oder Kontakte zu pflegen.
Ein Teilhabeplan wird in mehreren Schritten erstellt, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen oder besonderen Bedürfnissen die Unterstützung bekommen, die sie benötigen. Der Prozess ist darauf ausgerichtet, die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der betroffenen Person zu berücksichtigen. Im Folgenden die vom Gesetzgeber geforderten Schritte zur Erstellung eines Teilhabeplans:
- Antragstellung: Die Person mit Behinderung oder ihre Angehörigen stellen bei der zuständigen Behörde (z. B. beim Sozialamt oder einer Krankenkasse) einen Antrag auf Unterstützung. Dies ist der erste Schritt, um Hilfen zu erhalten. Dabei spielt es keine Rolle, welcher potenzielle Träger in welchem Umfang genau zuständig ist. Er gilt als „Erstangegangener“ und soll den Teilhabeplan initiieren.
- Bedarfsermittlung: Ein Gespräch wird geführt, um den genauen Unterstützungsbedarf zu ermitteln. Dabei wird die aktuelle Lebenssituation, die Einschränkungen und die Wünsche der betroffenen Person besprochen. In der Regel kommt ein speziell entwickeltes Verfahren zum Einsatz, wie z. B. das „Instrument zur Bedarfsermittlung“ ("BEI_NRW" in Nordrhein-Westfalen) oder das „ICF“ (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit).
- Zielplanung: In diesem Schritt wird festgelegt, welche konkreten Ziele die Person erreichen möchte. Zum Beispiel könnte es darum gehen, eine Ausbildung zu machen, eine eigene Wohnung zu finden oder am Schulunterricht teilnehmen zu können. Diese Ziele sind individuell und richten sich nach den Wünschen und Fähigkeiten der Person.
- Maßnahmenfestlegung: Hier wird bestimmt, welche Hilfen notwendig sind, um die Ziele zu erreichen. Das können Hilfsmittel sein (z. B. ein Rollstuhl oder Hörgeräte), Unterstützung durch Betreuungspersonen, spezielle Therapien oder Hilfen am Arbeitsplatz.
- Planerstellung: Auf Basis der Bedarfe, Ziele und Maßnahmen wird der Teilhabeplan schriftlich festgehalten. Dieser Plan enthält alle wichtigen Informationen und wird gemeinsam mit der betroffenen Person abgestimmt. Auch Angehörige oder andere Bezugspersonen können dabei eingebunden werden.
- Umsetzung: Nachdem der Plan erstellt und genehmigt wurde, beginnt die Umsetzung. Die zuständigen Stellen (z. B. Eingliederungshilfe, Krankenkassen oder Pflegekassen) sorgen dafür, dass die vereinbarten Maßnahmen in die Tat umgesetzt werden.
- Überprüfung und Anpassung: Der Teilhabeplan wird regelmäßig überprüft, um sicherzustellen, dass die Maßnahmen noch passend sind. Falls sich die Lebenssituation oder die Bedürfnisse ändern, kann der Plan angepasst werden.
Der gesamte Prozess soll von Fachkräften begleitet sein, welche sicherstellen, dass die betroffene Person bestmöglich unterstützt werde. Die Zielsetzung dabei: Menschen mit Behinderungen Selbstständigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben ermöglichen.
Rechtsgrundlagen
§ 19 & 20 SGB IX, § 117–121 SGB IX, BTHG, § 53–60 SGB XII
Dr. Annette Tabbara, Abteilungsleiterin im BMAS, stellte direkt nach der Einleitung durch Sebastian Lemme vom Forum Gehirn e.V. fest, dass eine erschreckend geringe Zahl an Teilhabeplanverfahren tatsächlich erfolgreich durchgeführt würde. Zwar würde die Zahl inzwischen merkbar ansteigen, aber seit Einführung des Bundesteilhabegesetzes bewegten sich die wie vom Gesetzgeber gedachten Verfahren grundsätzlich auf einem niedrigen Niveau. Oft werde von Kritikern bemängelt, dass dies an den zum Teil nicht eindeutigen Zuständigkeiten der Leistungsträger liege. Dr. Tabbara verteidigte das System mit dem Hinweis, dass der Erstangegangene grundsätzlich die Pflicht habe, ein Teilhabeplanverfahren einzuleiten und ggf. bei Nicht-Zuständigkeit an den tatsächlich zuständigen Träger übermitteln könne (s. Kasten).
Maßnahmen ohne Wirkung
Hubert Hüppe von der Fraktion der CDU/CSU beschrieb die verschiedenen Maßnahmen, die in seiner langjährigen Parlamentstätigkeit beschlossen wurden, um schnellere Hilfen Menschen mit Teilhabebedarf zu ermöglichen. All diese Initiativen des Gesetzgebers seien aber ohne nennenswerte Wirkung geblieben. Hüppe favorisierte eine Ombudsstelle als Lösungsansatz, die Leistungen kurzfristig zusprechen soll.
Der Abteilungsleiter im BMG, Michael Weller, und der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS), Carsten Mertins, nahmen positiv Bezug auf von Sebastian Lemme dargelegte Fallbeispiele, in denen funktionierende Teilhabeplanungen beschrieben worden.
GKV: Kassen nicht zuständig
Der Abteilungsleiter im GKV-Spitzenverband, Marcus Schneider, zog in seiner Interpretation des Problems Kinder mit Diabetes Typ 1 als Beispiel für schwer bei den Kassen zu prüfende Fälle heran, da nach seiner Ansicht die dauerhafte Beobachtung in KiTa und Schule keine medizinische, sondern eine pädagogische Leistung sei und die Kassen nach Übernahme einer punktuellen Behandlungspflege somit auch nicht zuständig.
„Wenn Ansprüche nur auf dem Papier existieren, dann nützen sie den Betroffenen nichts. Der Frust bei den Menschen ist groß und es muss endlich gehandelt werden, damit das Vertrauen der Menschen in den Sozialstaat nicht noch weiter abnimmt.“
- Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für Menschen mit Behinderungen
Ablehnung statt Planung
Als Vertreter der Diabetes-Selbsthilfe und Beratender von Mitgliedern der Diabetiker Niedersachsen in diesen Fragen setzte André Owczarek in der offenen Runde dagegen, dass bei einem Antrag auf Schulassistenzen für Kinder mit Diabetes in der Regel kein Teilhabeplan von den Kassen erstellt werde, die Kasse ihrer Rolle als Erstangegangener also nicht nachkomme. Eltern würden oft direkt mit ablehnenden Bescheiden konfrontiert und ohne Einleitung eines Teilhabeplanverfahrens an das Sozialamt verwiesen, welches dann ebenfalls keine Teilhabeplanung in Gang setze und einen rein medizinischen Bedarf sehe. Dann beginne das altbekannte Ping-Pong-Spiel um Zuständigkeiten, solange man nicht auf die Beantragung von spezieller Krankenbeobachtung im Sinne der Außerklinischen Intensivpflege ausweiche und diese notfalls mit Hilfe von Sozialgerichten durchsetze. Der Beitrag sorgte bei den Diskutanten für Betroffenheit. Marcus Schneider war zu diesem Zeitpunkt aber leider schon gegangen und konnte dieses Feedback nicht mitnehmen.
Auch andere Verbände schilderten teilweise erschütternde Zustände. Durch die Verschiebung der speziellen Krankenbeobachtung von den Richtlinien zur Häuslichen Krankenpflege in die Richtlinien zur Außerklinischen Intensivpflege (wirksam geworden im Oktober 2023) durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) hagele es auch bei anderen Behinderungen massenhaft ablehnende Bescheide der Kassen – ohne Hinweis oder Einleitung von Teilhabeplanverfahren. Dies alles vor dem Hintergrund, dass die spezielle Krankenbeobachtung nun eindeutig allein von den Krankenkassen getragen werden müsste.
Appell an die Träger
Trotz eines umfangreichen Impuls-Papiers von Karl-Eugen Siegel und Sebastian Lemme gelang es den Beteiligten leider nicht, praxistaugliche und schnelle Lösungen für die Schieflagen in der Umsetzung der Teilhabegesetzgebung zu entwickeln. Appelliert wurde an die Träger, vor allem die Kassen, sich künftig besser an den gesetzlichen Vorgaben und dem eigentlichen Anliegen der Teilhabegesetzgebung zu orientieren und statt ablehnender Bescheide als Erstangegangener aktiv und konstruktiv Teilhabepläne zu erstellen und ggf. weitere zuständige Träger selbsttätig zu involvieren. Die Erfahrung lehrt uns aber leider, dass Appelle allzuoft verhallen.
Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung, merkte leider treffend an: „Wenn Ansprüche nur auf dem Papier existieren, dann nützen sie den Betroffenen nichts. Der Frust bei den Menschen ist groß und es muss endlich gehandelt werden, damit das Vertrauen der Menschen in den Sozialstaat nicht noch weiter abnimmt.“
Fazit: Schnelle und einfache Lösungen sind mindestens in dieser Legislatur nicht mehr zu erwarten. Dies trotz hoher Sensibilität für das Thema in den Ministerien und beim Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel. Eltern von Kindern mit Diabetes werden sich weiterhin mit verwirrenden Gesetzen und Antragswegen, sowie juristischem Hickhack beschäftigen müssen, wenn sie den Bedarf einer steten Begleitperson für das betroffene Kind in KiTa oder Schule haben. Eine qualitätsgesicherte und kompetente Beratung durch die organisierte Selbsthilfe- und Patientenvertretung ist damit weiterhin erforderlich und ausbaubedürftig.