Kinder mit Diabetes in Schule und KiTa

Sozialgericht Marburg: Außerklinische Intensivpflege steht Kindern mit Diabetes zu!

Zwei Beschlüsse, die Hoffnung machen: Das Sozialgericht Marburg hat die AOK Hessen dazu verpflichtet für zwei Kinder mit Diabetes eine pflegerische Assistenzperson im Rahmen von Außerklinischer Intensivpflege zu bezahlen. Nach der bisher verwirrenden Situation für Eltern ein kleiner Hoffnungsschimmer in Richtung Klarheit. Aber, ist damit schon alles gewonnen?


Seit den Ende Oktober 2023 wirksam gewordenen Änderungen in den Richtlinien zur Häuslichen Krankenpflege (HKP) und zur Außerklinischen Intensivpflege (AKI) stehen Eltern von Kindern mit Diabetes, die eine pflegerische Begleitperson in Schule oder KiTa brauchen, vor einem großen Problem. Manche Kassen verweisen bei Verordnung von HKP auf Grundlage des Musters 12 auf die Streichungen der Passagen zur „speziellen Krankenbeobachtung“ in den entsprechenden Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und lehnen die Verordnungen ab.

Theorie statt Praxis

Verordnet werden könne hingegen AKI. Doch dieses macht eine Begutachtung des Medizinischen Dienst der Kassen (MD) obligatorisch, welcher dann, zumeist allein aufgrund der Aktenlage, entscheidet, dass die Notwendigkeit von AKI nicht gegeben sei. Diese Entscheidungen basieren auf den Begutachtungsrichtlinien des MD selbst, in denen behauptet wird, wenn ein Kind ein CGM-System trage, seien keine „unvorhergesehenen lebensbedrohlichen Zustände“ mehr möglich und von daher die Notwendigkeit einer steten intensivmedizinischen Versorgung nicht gegeben. Menschen, die mit Kindern mit Diabetes wirklich arbeiten, wissen es zwar besser, aber derzeit orientiert sich der MD lieber an der Theorie als an der Praxis.

AOK muss zahlen

Die Eilentscheidungen eines Marburger Sozialgerichts stellt diese ablehnende Haltung von Kassen und MD nun in Frage: Die AOK Hessen wird in diesen dazu verdonnert, die Kosten der AKI jeweils ein Jahr in vollem Umfang zu tragen. Kern der Begründung der entscheidenden Richterin: Kinder mit Diabetes brauchen mehr als eine intensivierte Insulintherapie und sind aufgrund ihres Entwicklungsstandes als Intensivpatienten zu werten, da lebensbedrohliche Zustände ohne stete Begleitung durch eine entsprechend geschulte pflegerische Begleitperson selbst mit modernen AID-Systemen möglich seien.  Die AKI setze nicht voraus, dass diese tatsächlich täglich eintreten, allein die Gefahr mache eine stete Beobachtung erforderlich.

Einer der Anträge auf Außerklinische Intensivpflege war von den Eltern mit mehreren ärztlichen Begleitschreiben eingereicht worden. Bereits in diesen wies eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes darauf hin, dass Behandlungspflege im Sinne des § 37 c des Sozialgesetzbuches V erforderlich sei. Der Paragraf macht für die Gewährung von Außerklinischer Intensivpflege einen „besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege“ zur Bedingung. Dies schien auch der Richterin bei der Versorgung/Beobachtung der Kinder mit Diabetes gegeben.

Eine unerwartete Wendung

Die Entscheidungen des Gerichts sind von daher bemerkenswert, da bisher noch keine Urteile im Streit um die AKI gefällt worden sind. Bisher rieten die meisten Diabetes-Verbände (inkl. uns), auf eine stete Begleitung im Rahmen der HKP zu pochen und durch den Arzt die behandlungspflegerische Notwendigkeit in einem Begleitschreiben zum zur Beantragung benötigten Muster 12 begründen zu lassen. Dass nun erste Richter anfangen (eine weitere Entscheidung mit ähnlichem Wortlaut wird für Ende der Woche erwartet) die Versorgung von Kindern mit Diabetes in KiTa und Schule im Rahmen der AKI zu sehen ist deshalb eine für uns unerwartete Wendung in der Auslegung der neuen Gesetzeslage.

Wie lange wird noch HKP gewährt?

Die Beantragung von steter Krankenbeobachtung als Teil der Behandlungspflege des Kindes nach HKP hatte bisher den Vorteil, dass selbst bei einer Teilablehnung der Versorgung durch die Kasse eine Übernahme der Kosten durch das Sozialamtes über die Teilhabegesetzgebung möglich war. Nach Urteilen aus Gelsenkirchen und Magdeburg zu Zeiten der alten Gesetzgebung änderte sich dies sogar dahingehend, dass HKP zumeist im vollen Umfang gewährt wurde, da die behandlungspflegerische Begleitung von Kindern unter die Richtlinienbestimmung der „speziellen Krankenbeobachtung“ fiel. Mit dem Wegfall des Abschnitts zur speziellen Krankenbeobachtung aus den HKP-Richtlinien wurde dies nun wieder schwieriger, aber auch nicht unmöglich. Viele Krankenkassen übernehmen derzeit weiterhin die Kosten. Wie lange noch, ist aber unklar.

Statement

Lisa Völpel-Klaes, Anwältin aus Leidenschaft und selbst Mutter vom Typ F, hat bereits zigfach Ansprüche von spezieller Krankenbeobachtung für Kinder mit Diabetes vor Sozialgerichten durchgesetzt und war auch dieses Mal der Motor der aktuellen Eilentscheidungen. Wir haben sie um ein kurzes Statement zur neuen Lage gebeten:

 „Sowohl nach alter als auch nach neuer Rechtsprechung steht eines doch fest: Kindern mit Diabetes steht bis mind. Ende der Grundschule eine rein medizinische Pflege in Form der speziellen Krankenbeobachtung zu. Die Verordnung ist zwar nicht vorbildlich klar formuliert, aber der Gesetzgeber hat deutlich klargestellt, dass die spezielle Krankenbeobachtung in die AKI übergegangen ist. Unter der Maßgabe, dass die Gründe für eine spezielle Krankenbeobachtung vorliegen (so wie bei Kindern mit Diabetes bereits zigfach vor Gericht erstritten und mit hauptrichterlichen Urteilen bestätigt), ist klar davon auszugehen, dass diese nun im Rahmen der AKI fortzuführen sind. Allein das ist es, was der Gesetzgeber gewollt haben kann.“

Gang zum Anwalt wohl weiterhin notwendig

Vorteil bei einer Verordnung der Begleitung im Rahmen von AKI ist, dass im Rahmen der Richtlinien klar ist, dass es sich um eine behandlungspflegerische Begleitung handelt und eine Abwälzung auf die Teilhabegesetzgebung nicht mehr möglich ist. Zudem werden direkt nach Verordnung nach den Mustern 62 b und c die Kosten für den Pflegedienst bis zur Entscheidung von der Kasse getragen, solange diese innerhalb von 4 Tagen nach Ausstellung bei dieser eingegangen ist. Problematisch ist hier allerdings die obligatorische Prüfung durch den Medizinischen Dienst, der sich selbst in seine Richtlinien zur Begutachtung geschrieben hat, dass Diabetes Typ 1 bei Kindern aufgrund der weitläufigen Versorgung mit CGM-Geräten nur in Ausnahmefällen AKI notwendig mache. Da der MD derzeit nicht die personellen Kapazitäten zur Begutachtung der Situation vor Ort aufbringt, wird es wohl auch künftig so bleiben, dass häufig vom Schreibtisch aus ablehnend entschieden wird.

Der Gang zum Anwalt bei der Beantragung von AKI wird also die nächsten Jahre eher die Regel als die Ausnahme sein. Doch die Entscheidungen in Hessen machen neuen Mut. Die Rechtsanwältin Lisa Völpel-Klaes, welche die Eilentscheidungen erstritten hat (s. Kasten), kündigte im Gespräch mit den Diabetikern Niedersachsen bereits drei entscheidungsreife Anträge bei anderen Gerichten an. Die Beschlüsse hält sie für richtungsweisend, da sie derzeit die einzig aktuelle Rechtsprechung zum Thema Diabetes Typ 1 in KitA/Schule und AKI seien.

In Kürze werden wir aufgrund der neuen Lage unsere Handlungsempfehlungen überarbeiten. Wir bitten um etwas Geduld.

Fazit: Gesetzgeber muss nachbessern!

Abschließend lässt sich sagen, dass die nun eingetretene gesetzliche Situation die Lage für die Eltern von Kindern mit Diabetes bisher nicht verbessert, sondern verschlechtert hat. Gefordert wäre der Gesetzgeber, der für Kinder mit chronischen Erkrankungen, die eine stete medizinische Interventionsbereitschaft erforderlich machen (z.B. Diabetes, aber auch Epilepsie), einen eigenen Abschnitt in der Sozialgesetzgebung schaffen müsste, der klarstellt, dass die jeweiligen Krankheiten eine stete Beobachtung durch kompetentes Personal notwendig machen und in diesem Sinne nichts mit Teilhabeleistungen zu tun haben. Ob das Ganze dann HKP, AKI oder DKV heißt – das ist für Eltern, die einfach nur möchten, dass ihre Kinder in KiTa und Schule gut versorgt sind, im Grunde egal. Nur der ewige Verschiebebahnhof an Zuständigkeit muss endlich aufhören! Wenn dies nur über ein Erstreiten haupttrichterlicher Urteile vor Sozialgerichten möglich ist, so ist dies nicht der bequemste, aber auch ein gangbarer Weg.

Wir sind gespannt und bleiben mit Frau Völpel-Klaes im regen Austausch. Sollte die Genehmigung von AKI nach Muster 62 b und c sich durchsetzen - es wäre viel gewonnen.