Aus unserer Arbeit mit Familien

Schul- und KiTa-Begleitung bei Diabetes Typ 1 und wie sie durchgesetzt werden kann

Seitdem im Oktober 2023 einige Änderungen in den Richtlinien zur Häuslichen Krankenpflege (HKP) und zur Außerklinischen Intensivpflege (AKI) endgültig wirksam geworden sind, stehen Eltern vor einem Problem: Sowohl die Krankenkassen als auch die Sozialämter wollen die Kosten für eine Diabetesassistenz/ Begleitperson in KiTa, Schule und Hort nicht mehr übernehmen.


Marie ist 7 Jahre alt und kommt nächsten Sommer in die zweite Klasse. Marie hat seit dem Ende ihres fünften Lebensjahres die Diagnose Diabetes Typ I. Bis zum Oktober 2023 wurde ihr eine Pflegekraft in der Schule, die nicht nur Blutzucker misst und Insulin an der Pumpe abgibt, sondern auch sonst aufpasst, dass sich keine lebensbedrohliche Stoffwechselentgleisung einstellt, im Rahmen der Richtlinie zur Häuslichen Krankenpflege (HKP) von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt. Grund: Notwendigkeit einer sog. „Speziellen Krankenbeobachtung“.

Frederick ist 6 und wird im August eingeschult. Der aufgeweckte Junge freut sich schon auf die Schule. Bereits in der KiTa hatte er wie Marie eine stete Begleitperson, die seinen Diabetes managet und auf ihn aufpasst. Der Unterschied: Seine Begleitperson wurde zum größten Teil vom Sozialamt im Rahmen von Teilhabeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch IX bezahlt. Gemacht hat sie im Grunde das Gleiche wie Maries potenzieller Lebensretter.

Gerrit ist schon 11 und kommt nun in die 6. Klasse einer Oberschule. Wie bei Frederick wurde seine Begleitperson bisher größtenteils im Rahmen von Teilhabeleistungen bezahlt. Aber bei Gerrit ist es etwas anders: Er ist schon älter und kann viele Handgriffe seines Insulinmanagements schon selbst durchführen. Außerdem trägt er im Gegensatz zu den anderen beiden Kindern ein modernes „AID“-System, welches die Insulinabgabe größtenteils automatisch anhand von Messwerten regelt. Dennoch: Gerrit hat noch andere Probleme. Eine sog. Anpassungsstörung führt immer wieder dazu, dass er die Pumpe austrickst und impulsiv Unmengen an Zucker konsumiert. Seine Begleitperson interveniert dann.

Ein letztes Fallbeispiel: Luisa wird 10 und geht ohne Begleitperson in die Schule. Bereits seit dem achten Lebensjahr ist sie in der Lage ihren Diabetes größtenteils selbst zu managen. Ihr AID-System hilft Ihr dabei. Nur punktuell kommt eine Pflegekraft in die Schule und überprüft die Parameter, korrigiert im Notfall etwas. Diese wird ebenso wie bei Marie von der Krankenkasse bezahlt. Ihre Eltern verzichten nach einer anfänglichen Begleitung durch die Großmutter auf eine ganzzeitige Schulbegleitung, weil sie es besser finden, dass Luisa früh lernt, ihren Diabetes möglichst selbstständig zu managen.

Alles Fallbeispiele aus unserer Praxis in der Arbeit mit Familien vom Typ F (Namen der Kinder geändert), wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Dennoch haben die ersten drei Kinder eines gemeinsam: Seitdem im Oktober 23 einige Änderungen in den Richtlinien zur Häuslichen Krankenpflege und zur Außerklinischen Intensivpflege endgültig wirksam geworden sind, stehen ihre Eltern vor einem Problem: Sowohl die Krankenkassen als auch die Sozialämter wollen bestimmte Leistungen nicht mehr übernehmen.

Eigentlich kein Problem

Hatte es sich nach einem Urteil des Sozialgerichts Magdeburg im Oktober 2022 gerade etabliert, dass die Kassen die „spezielle Krankenbeobachtung“ (also eine den ganzen Schultag anwesende Begleitperson) für Kinder mit Diabetes im Sinne der HKP-Richtlinien übernehmen, so fehlt hierfür jetzt die Grundlage: Die Passagen in der HKP, auf die sich die Kostenübernahmen bezogen sind nun gestrichen. Eigentlich kein Problem, denn der entscheidende gemeinsame Bundesausschuss und auch das Bundesgesundheitsministeriums halten beide fest: Die spezielle Krankenbeobachtung ist nun in die AKI übergegangen.

Für Eltern heißt das konkret, dass sie den behandelnden Kinderarzt nun bitten müssen, eine andere Verordnung als bisher auszustellen. Statt HKP nach Muster 12 ist nun AKI nach Muster 62 b und c zu verordnen. Könnte einfach sein, ist es aber nicht. Denn eine Verordnung nach Muster 62 macht eine Überprüfung durch den Medizinischen Dienst (MD) obligatorisch. Diese soll nach dem Sozialgesetzbuch V, § 37c, vor Ort stattfinden. Tut sie aber in der Regel nicht, denn aufgrund Personalmangels entscheidet der MD nach Aktenlage. Und diese ist einfach für ihn, denn in ihre Begutachtungs-Richtlinien haben sich die prüfenden Mediziner geschrieben, dass Kinder mit Diabetes in der Regel keine dauerhafte Beobachtung benötigten.

AID-Systeme, wo keine sind

In der Praxis führt das zu hanebüchenen Gutachten. Ärzte, die in ihrer Karriere nie etwas mit Diabetes zu tun gehabt haben, attestieren da schon auch einmal AID-Systeme, wo gar keine sind, oder orakeln aus Blutzuckerverlaufskurven eine fehlerhafte Ernährung des Kindes, keinesfalls sehen sie die Notwendigkeit einer Diabetesassistenz gegeben. Eben, weil das Papier es sagt. Die Komplexität eines sich entwickelnden Stoffwechsels unter dem Druck einer defekten Bauchspeicheldrüse, oder die Höhen und Tiefen des Schul- und KiTa-Alltags bleiben ihnen verborgen. Nochmal: Obwohl eine Begutachtung vor Ort laut Gesetz eigentlich die Regel sein soll.

Eine neue Situation

Doch manchmal ist die korrekte Beantragung nicht das alleinige Problem. Eine geeignete Begleitperson muss überhaupt erst vorhanden sein, damit das Kind begleitet werden kann. Hier empfiehlt sich als erster Schritt, die Pflegedienstleister vor Ort abzuklappern. Hat man dies geschafft, helfen die Dienste oft selbst bei der Beantragung, in der Form, in der sie es gewohnt sind. Sie raten dazu, den Arzt ein Muster 12 zur Beantragung von Häuslicher Krankenpflege ausfüllen zu lassen, was nun all zu oft zu Bauchlandungen geführt hat. Manche Kassen verweisen dann nämlich auf eine fehlende Rechtsgrundlage für die Bewilligung von spezieller Krankenbeobachtung im Rahmen von HKP.

Dies geschah zuweilen auch schon früher, nur sprangen dann nach zähem Ringen oft die Sozialämter im Rahmen der Eingliederungshilfe in die Bresche und übernahmen die Kosten für den beobachtenden Teil als Bezahlung einer sogenannten „I-Kraft“. Damit ist nun breitflächig Schluss. Die Ämter argumentieren nicht unlogisch, dass es sich bei spezieller Krankenbeobachtung vorrangig um eine medizinische Leistung, nicht um eine Ermöglichung von Teilhabe im Rahmen der Inklusion, handle und diese nun in die AKI-Richtlinie verschoben worden und demnach von den Kassen vollständig zu übernehmen sei.

Ähnlich sah es das Landessozialgericht Hessen in einem Beschluss zu einem Beschwerdeverfahren der AOK Hessen gegen eine Familie, welche die AKI für ihr Kind mit Diabetes vor dem Sozialgericht Gießen erfolgreich erstritten hatten. Dier Richter argumentierten, dass Kinder mit Diabetes AKI zustünde, wenn die Notwendigkeit dafür medizinisch begründet sei. Dies sei im vorliegenden Fall eindeutig geschehen und somit müsse die Kasse diese Leistung auch bezahlen.

Wege zur Schulbegleitung

Was heißt das für betroffene Eltern? Ist ihr Kind noch klein und kann seinen Diabetes nicht selbst ausreichend managen, um „täglich unvorhergesehene lebensbedrohliche Zustände“ in KiTa, Hort oder Schule zu verhüten, so steht ihm eine beobachtende Pflegekraft im Sinne der AKI-RL und des § 37c des SGB V zu! Nur muss dies auch ausreichend begründet sein. Hierfür empfiehlt es sich, bei der Verordnung nach Muster 62b und c in den dafür vorgesehenen Feldern dies auch über einen Vermerk wie „unkooperatives Kind“ deutlich zu machen und den verschreibenden Mediziner in einem Arztbrief erklären zu lassen, warum das Kind seinen Diabetes auch mit Hilfe seiner Pumpe noch nicht allein so beobachten kann, dass keine lebensgefährlichen Situationen eintreten können.
 
Die Schwankungen lassen sich am besten anhand ausgelesener Protokolle von Insulinpumpe und/oder CGM-Sensor dokumentieren. Uns ist bisher kein Kind bekannt, welches in diesem Alter mit einer stabilen Time-In-Range glänzen kann. Im Gegenteil, als erwachsener Mensch mit etwas Ahnung von Diabetes Typ 1 sträuben sich einem auf den ersten Blick die Haare.  Dies lässt sich auch auf ältere Kinder in der Grundschule übertragen, die auf eine Begleitung angewiesen sind. Es empfiehlt sich, bei häufig schweren Entgleisungen, die Protokolle bereits der Verordnung beizulegen und in einem begleitenden Anschreiben an die Kasse, darauf einzugehen. Dies führt trotzdem oft noch zu ablehnenden Bescheiden, aber gegen diese kann Widerspruch eingelegt werden.

Gut begründete Widersprüche werden inzwischen von den Krankenkassen ernstgenommen und auch ohne Sozialgericht sind inzwischen die ersten Genehmigungen erwirkt worden. Im Kern eines Widerspruchs sollte immer die individuelle Situation des Kindes stehen. Gerade bei sehr kleinen Kindern, die eine Assistenz im Kindergarten benötigen, ist dies eigentlich einfach. Ihr Stoffwechsel ist noch sehr empfindlich und enorme Blutzuckerschwankungen (und damit die zur Genehmigung von AKI zwingend erforderlichen „täglich unvorhergesehenen lebensbedrohlichen Zustände“) sind die Regel.

Dennoch: Der ganze Komplex Schulbegleitung/Diabetesassistenz ist so individuell wie willkürlich. Mit etwas Druck und Herantreten an die Politik kann im Notfall (z.B. bei Kündigung der Betreuung durch die KiTa aufgrund einer fehlenden Begleitperson) auch die Eingliederungshilfe nach dem Sozial-Gesetzbuch IX wieder aktiviert werden. Manchmal hilft am Ende leider nur der Gang vor das Sozialgericht, vor dem Eltern dann inzwischen am laufenden Band recht bekommen. Hier ist eine gute Rechtsschutzversicherung, die auch bei sozialrechtlichen Klagen einen Anwalt bezahlt, hilfreich.

Besonnen handeln!

In jedem Fall aber sollten betroffene Eltern besonnen handeln. Wilde Telefoniererei hat sich unserer bisherigen Erfahrung nach als kontraproduktiv erwiesen. In Ruhe sollten die notwendigen Dokumente zusammengestellt und der Kasse übersandt werden, danach notfalls Widerspruch eingelegt und im Fall der Fälle auch ein Rechtsbeistand hinzugezogen werden. Mitgliedsfamilien können zu uns Kontakt aufnehmen und sich beraten lassen. Die Artikelempfehlungen unten enthalten zudem weitere wertvolle Informationen.

Das Recht auf "Nicht-Begleitung"

Natürlich kann es auch sein, dass eine kooperative KiTa oder eine kooperative Schule und ein früh im Diabetes-Management begabetes Kind eine Begleitkraft obsolet macht. Niemand ist dazu gezwungen, die spezielle Krankenbeobachtung in Anspruch zu nehmen, wenn sich der Diabetes ohne sie managen lässt. Der eher mauen Situation beim Vorhandensein von Schulbegleitern/Pflegekräften kommt das durchaus entgegen. Im Idealfall hält die Schule sog. "Schulgesundheitsfachkräfte" vor, die den Diabetes per Follower-App im Auge behalten und die Pumpe bedienen. Dies ist leider aber in vielen Bundesländern und Kommunen nicht die Regel, sondern nur eine erfreuliche Ausnahme.