„Keine gesetzliche Grundlage mehr“

Vom Gesetzgeber vergessen: Kinder mit Diabetes Typ 1 ab 1. November ohne Schulbegleitung?

Viele Eltern, die froh sind, den Kampf, um die Kostenübernahme für eine Begleitperson für ihr Kind mit Diabetes in Kindergarten und Schule durchgestanden zu haben, steht wahrscheinlich ein neuer Schock bevor: Durch eine Veränderung von Richtlinien und Gesetzesgrundlagen könnten sie diesen Anspruch verlieren.


Im Zuge der Streichung von Passagen zur speziellen Krankenbeobachtung in der Richtlinie zur Häuslichen Krankenpflege (HKP) zum 1. November erfahren Eltern von Kindern mit Diabetes Typ 1 gerade einen gewaltigen Schock: Krankenkassen stellen plötzlich die Übernahme der Behandlungspflege ihrer Kinder in Schule und Kindergarten ein. Begründung: Es gäbe keine gesetzliche Grundlage mehr für die Übernahme dieser Kosten.

Diabetes nicht der Rede wert

Dabei – so zumindest die Theorie – sollte die gesetzliche Grundlage für die Trägerschaft der Gesetzlichen Krankenkassen künftig Teil der „außerklinischen Intensivpflege“ (AKI) nach § 37c, Sozialgesetzbuch V sein. Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur AKI erwähnt Diabetes aber nicht mit einem Wort!

Liest man das Dokument, bekommt man den Eindruck, alle Regelungen bezögen sich allein auf Menschen, die beatmungspflichtig oder trachealkanülisiert sind.  Die nun von Medizinern zur Verordnung zu verwendenden Formulare sind kompliziert und lassen keinen Raum zur Darstellung der besonderen pflegerischen Anforderungen von Kindern mit Diabetes. Erster Eindruck: Kinder mit Diabetes wurden bei der Überführung von Bereichen der HKP in die AKI schlichtweg vergessen!

Hilfsseite eingerichtet

Betroffene Eltern stehen nun vor großen Problemen. Manche Krankenkassen als Träger der Kosten für die pflegerische Versorgung des Kindes sehen nun keine Rechtsgrundlage mehr für die Übernahme der Behandlungspflege. Derzeit laufen in den Patientenvertretungen und beim Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) die Drähte heiß, was nun zu tun sei. Wir werden diesen Beitrag laufend aktualisieren, um Euch stets informiert zu halten. Die ISL hat bereits eine Hilfsseite eingerichtet. Dort findet ihr Informationen, wie die neuen Formulare vom behandelnden Kinderarzt ausgefüllt werden müssen, um den Anspruch wenigstens rechtssicher zu begründen. Außerdem können Erfahrungsberichte eingereicht werden.

Update 1

24.10.2024

Wir haben bei den Krankenkassen direkt nachgefragt, was auf betroffene Eltern nun evtl. zukommt. Die Anfrage im Wortlaut, wollen wir Euch nicht vorenthalten. Natürlich werden wir auch die Antworten an geeigneter Stelle aufbereiten.

"Sehr geehrte Damen und Herren,

wie bereits in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss über die Verordnung mit außerklinischer Intensivpflege (AKI-RL) seit März 2022 festgelegt, ist die spezielle Krankenbeobachtung von Kindern mit Diabetes Typ 1 durch eine KITA- oder Schulbegleitung bei festgestelltem Anspruch durch den medizinischen Dienst ab 01.11.2023 nicht mehr gesetzlich durch die Richtlinie zur Häuslichen Krankenpflege (HKP), nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 und Abs. 7 SGB V, gedeckt. Die Anspruchsberechtigung ergibt sich ab dem 01.11.2023 ausschließlich über die Richtlinie zur Verordnung außerklinischer Intensivpflege (AKI-RL), nach § 37c SGB V.

Diese Änderung betrifft u.a. auch Familien mit Kindern mit Diabetes Typ 1. Wenn bisher spezielle Krankenbeobachtung im Rahmen der HKP verordnet und von den GKVen die Kosten übernommen worden sind, so fehlt hierfür jetzt die Gesetzesgrundlage und der behandelnde Arzt muss eine neue Verordnung, nach den neuen Formularen 62b und c, welche von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bereitgestellt werden, ausstellen. Dies hat bereits mehrfach betroffene Familien aufgrund eines Informationsdefizits vor große Probleme gestellt, die sich damit an uns gewandt haben. Neben diesen Einzelfällen, in denen wir über die neuen Verordnungsformulare aufklären konnten, ergeben sich für uns als Patientenvertretung aber ganz allgemeine Fragen zur Überführung von Ansprüchen in der HKP in die AKI, um deren Beantwortung wir Sie hiermit freundlich bitten möchten:

  1. Wie verfahren Sie im Fall von Ihnen bereits genehmigter Leistungsansprüche der HKP über den 01.11.2023 hinaus? Werden die Leistungen weiterbezahlt, bis der behandelnde Arzt eine neue Verordnung auf AKI ausgefüllt und der medizinische Dienst erneut geprüft hat, oder stellen Sie die Übernahme der Kosten direkt zum 01.11. ein?
  2. Wurden alle betroffenen Leistungserbringer und Versicherten über den Wegfall der Gesetzesgrundlage von Ihnen informiert?
  3. Ist nach Ihrer Einschätzung eine schnelle und unbürokratische Aktualisierung Ihrer Leistungsentscheidungen für betroffene Familien möglich, welche die Verordnung mit Formular 62b und c noch vor dem 01.11.2023 einreichen?

Wir danken Ihnen für eine schnelle Auskunft. Viele Familien, die auf eine KITA- oder eine Schulbegleitung angewiesen sind, werden es Ihnen danken."

 

 

Update 2

25.10.2023

"Unter der Voraussetzung einer ausreichend stabilen Diabeteseinstellung mit Gewährleistung von regelmäßigen, engmaschigen Blutzuckerkontrollen, Insulingaben nach Dosierschema und Beachtung der diätetischen Maßnahmen kann es nur selten zu Blutzuckerentgleisungen kommen, die als unmittelbar lebensbedrohlich zu bewerten sind. Diese Sondersituationen begründen nicht die Notwendigkeit einer permanenten pflegerischen Interventionsbereitschaft im Sinne einer außerklinischen Intensivpflege. [...]
 

Unter Berücksichtigung dieser Aspekte sind die Voraussetzungen für die außerklinische Intensivpflege im Sinne von § 37c SGB V aus sozialmedizinischer Sicht in der Regel „nicht erfüllt“."

aus der Begutachtungsanleitung & Richtlinie des Medizinischen Dienstes (MD) zur Außerklinischen Intensivpflege

Ein Zitat, dass man sich auf der Zunge zergehen lasssen muss. Praktisch bedeutet es, dass die nun obligatorische Prüfung der Notwendigkeit einer pflegerischen Begleitung des Kindes stets unter der Maßgabe stattfindet, dass grundsätzlich keine Notwendigkeit zu einer pflegerischen Interventionsbereitschaft gesehen wird. Auf gut Deutsch: Wer den pflegerischen Teil der Schuldbegleitung vom Arzt für sein Kind verordnet bekommt, ist noch nicht am Ende des Leidensweges. Man ist ganz dem Wohl und Wehe eines Gutachtens ausgesetzt, welches von der Grundlage ausgeht, dass es eigentlichen keinen Anspruch gibt!

Kassen argumentieren widersprüchlich

Wir haben inzwischen von mehreren gesetzlichen Krankenkassen die Information erhalten, dass sie das Formular 12 (also Verordnung von HKP) weiterhin bevorzugen und die Versorgung weiterhin als Teil der HKP betrachten, selbst wenn der Teil zu Diabetes aus der entsprechenden Richtlinie gestrichen worden ist. Andere hingegen sprechen generell die Notwendigkeit einer Pflege in KITA und Schule ab. Wir werden in den nächsten Tagen zusammenfassen, welche Antworten wir erhalten haben. Klar ist: So einfach, wie Eltern es sich wünschen würden, ist es leider nicht!

 

Update 3

27.10.2023

Zusammenfassung der Problemlage

Es ergeben sich drei Problemfelder:

  1. Die Verschiebung der Behandlungspflege von Kindern mit Diabetes von der HKP in die AKI – unter Wegfall der entsprechenden Passagen in der HKP – wird nicht von allen Krankenkassen die gleiche Bedeutung zugemessen. Manche wollen weiter Verordnungen nach HKP (Formular 12), andere wollen Verordnungen nach AKI (Formulare 62b und c), dritte sehen grundsätzlich keinen Anlass für pflegerische Assistenz. Eine Begründung für den Verbleib in der HKP ist, dass es sich um Behandlungspflege nicht um spezielle Krankenbeobachtung handle. Diese sei auch nach der neuen Lage weiterhin als HKP verordnungsfähig.
  2. Die Richtlinien des Medizinischen Dienstes sehen im Grundsatz keinen Bedarf einer speziellen Krankenbeobachtung von Kindern mit Diabetes in KITA und Schule. Die formulierten Kriterien und hohen Hürden für eine entsprechende Begutachtung gehen an der Realität des in der Schule leistbaren und der Fähigkeiten von Kindern im Umgang mit Insulinpumpen und rtCGM-Geräten komplett vorbei.
  3. Die von der Kassenärztlichen Vereinigung bereitgestellten Formulare zur Verordnung von AKI sind anscheinend nicht für alle Ärzte im System verfügbar und nur mit Tricks und hohem Aufwand so auszufüllen, dass außerklinische Intensivpflege verordnet wird.

Wir versorgen Euch in Kürze mit abgestimmten Handlungsempfehlungen.

Update 4

14.11.2023

Die Lage bleibt verworren

Während manche Kassen nach Formular 12 verordnete Behandlungspflege (mit spezieller Krankenbeobachtung) nicht mehr akzeptieren und betroffene Eltern damit zwingen Außerklinische Intensivpflege (AKI) zu beantragen, damit ihr Kind mit Diabetes in die KITA oder Schule gehen kann, raten die meisten Kassen dazu, weiter auf die alte Art zu beantragen. Die dann verordnete Behandlungspflege beinhaltet zwar nach dem Gesetz keine "spezielle Krankenbeobachtung" mehr, in der Praxis habe aber laut Aussage der DAK der Arzt die Möglichkeit weiterhin eine kontinuierliche Schul- oder Kindergartenbegleitung über das Muster 12 zu verordnen. Wir arbeiten weiter daran, Licht ins Dickicht dieses Dschungels zu bringen und eine Handlungsempfehlung zu entwickeln.