Kommentar

Barrierefreiheit mangelhaft: Moderne Hilfsmittel für alle Menschen mit Diabetes

Barrierefreiheit spielt bei Hilfsmitteln für Menschen mit Diabetes leider noch immer eine untergeordnete Rolle. Aber nicht nur Menschen mit Sehbehinderung sind von der komfortablen Nutzung neuer Technologien oft ausgeschlossen. Ein Umstand, der nicht sein muss und von Herstellern und Gesetzgebern behoben werden muss.

Menschen mit Seheinschränkungen haben bei den meisten Neuentwicklungen auf dem Diabetes-Hilfsmittelmarkt das Nachsehen. Viel zu oft berücksichtigen die Entwickler nicht die Standards der Betriebssysteme von Smartphones, die eine Benutzung durch Menschen mit Sehbehinderung überhaupt erst ermöglichen. In einem eindringlichen Gastbeitrag hat die stellvertr. Vorstandsvorsitzende der Deutschen Diabetes Hilfe (diabetesDE), Diana Drossel, diesen und andere Missstände benannt.

Als Mitglied im Entwicklerteam der AndroidAPS-Loop-Software ist die selbst von Blindheit betroffene Drossel eine kompetente Kommentatorin der derzeitigen Lage. Sie scheut sich auch nicht, die Hersteller zu benennen, die sich an gängige Standards halten und AID-(Automatisierte-Insulin-Dosierungs-)Systeme somit auch für Menschen mit Sehbehinderung bedienbar machen. Wir wollen uns ihren Ausführungen anschließen und diese noch um ein paar Aspekte ergänzen.

Moderne Hilfsmittel auf dem Vormarsch

Die Weiterentwicklung von Zucker-Messsystemen und Insulinpumpen schreitet kontinuierlich voran und macht große Sprünge. Es ist noch nicht lange her, da piksten sich die meisten Menschen mit einem Typ 1-Diabetes noch in den Finger mit einer Lanzette, um den Blutzucker zu messen und anschließend mit einer Spritze ins Gewebe, um den Blutzucker zu regulieren. Diese Zeiten scheinen endgültig vorbei zu sein: Bereits im Jahr 2020 nutzten rund 65 % aller Menschen mit einem Typ 1-Diabetes in Deutschland ein CGM- oder FCGM-Gerät, rund 29 % eine Insulinpumpe.

Unserem Eindruck nach sind diese Zahlen inzwischen noch einmal kräftig gestiegen. Auch die meisten Krankenkassen haben schon länger ein Einsehen und übernehmen die Kosten für neue Technologien relativ problemlos. Verbessert die Nutzung moderner Hilfsmittel doch auch nachweislich den Langzeitzuckerwert und beugt damit präventiv Folgeerkrankungen vor. Eigentlich profitieren also alle von den neuen Möglichkeiten.

Barrierefreiheit kein Hexenwerk

Leider ist aber oft die Partizipation an den Neuerungen für Menschen, die zusätzlich unter eine Sehbehinderung leiden, nicht gegeben, oder zumindest nicht ohne Aufwand möglich. Die Bedienbarkeit der Geräte ist in Zeiten von Touchscreens und Steuerung per App auf dem Smartphone nämlich dann mehr als eingeschränkt, wenn man nicht lesen kann, was auf dem Bildschirm steht, oder fühlen, welchen Knopf man drücken will.

Eigentlich ist das kein Problem. Bereits seit den Pioniertagen des Heimcomputers gibt es Technologien, die es Menschen mit Sehbehinderungen ermöglichen, Inhalte auf Bildschirmen zu erfassen. Der Klassiker ist hier die bereits sehr lange implementierte Vorlesefunktion in Microsofts Windows-Betriebssystemen. Solche Technologien haben natürlich auch Apple und Google in ihren Betriebssystemen für Smartphones und Tablets integriert. Es ist kein Hexenwerk!

Entwicklung ohne Rücksicht

Um eine solche Funktion aber für eine App, die z.B. eine Pumpe steuert, verfügbar zu machen, müssen bei der Programmierung gewisse Standards eingehalten werden. Dies tut Drossel zu Folge aber eigentlich nur ein Hersteller!  Nicht wenige Menschen haben das gegenüber den anderen Herstellern der Geräte in unserem DIA-AID live-Angebot immer wieder beklagt. Wirklich aufschlussreiche Antworten und verbindliche Zusagen haben sie nicht erhalten.  Menschen mit Sehbehinderungen spielen bei der Entwicklung innovativer neuer Hilfsmittel anscheinend kaum eine Rolle.

Den Blick weiten

Wir wollen den Blick aber noch etwas weiten: Auch Menschen mit anderen Beeinträchtigungen finden wenig Berücksichtigung. Wer taub und blind ist, ist auf eine haptische Steuerung mittels klassischer hervorstehender Knöpfe angewiesen. Entsprechende Geräte werden auf dem Markt aber nicht zusätzlich angeboten, bzw. geht das Angebot an ihnen zurück. Auch ist es gerade für ältere Menschen mit schleichend erworbenen Einschränkungen schwierig, sich an eine Vorlese-Lösung zu gewöhnen. Hier fehlt es oft an barrierearmen klassischen Steuergeräten, die entweder abgeschafft oder im besten Falle verspätet auf den Markt kommen. Nutzer eines der beliebtesten Zucker-Messsensoren in schlichtem Weiß können davon ein Liedchen singen.

Fortschritt für alle

Wir meinen: Inklusion und Barrierefreiheit sollten gerade bei Hilfsmitteln für Menschen mit chronischen Erkrankungen höchste Priorität haben. Ja, der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass eine möglichst barrierefreie Nutzung auch in der Zulassung zu einer Grundbedingung wird. Fortschritt ist nur dann echte Verbesserung, wenn er Fortschritt für alle bedeutet. In diesem Sinne werden wir in den kommenden Monaten unser Engagement auf dem Feld Barrierefreiheit verstärken, uns selbst auf diesem Feld weiterbilden und immer dann den Finger in die Wunde legen und laut sein, wenn es angebracht ist.

Faktenblatt des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes

 

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband hat in Kooperation mit unserem Landesvorstand ein Faktenblatt zur therapeutischen Versorgung von Menschen mit Diabetes mellitus und Seheinschränkung verfasst. Im Zusammenhang mit unserem Kommentar stellen wir es an dieser Stelle gern zur Verfügung.

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