Aus Sicht der Patientenvertretung

Koalitionsvertrag der Ampel: Potential trotz Mängeln

Die kommende Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat ihren Koalitionsvertrag der Öffentlichkeit vorgelegt. In diesem steckt aus unserer Sicht als Patientenorganisation trotz Mängeln auch Potential. Warum verraten wir Euch im folgenden Artikel, indem wir unsere im August gestellten Fragen zur Bundestagswahl zum Ausgangspunkt der Betrachtung machen.

Anlässlich der Bundestagswahl hatten wir die Parteien im Bundestag gefragt, wie diese zu drei Themenkomplexen stehen, die wir als Patientenvertretungsorganisation in der Bundespolitik für relevant halten. Der Koalitionsvertrag ist inzwischen veröffentlicht und auch wenn diesem die drei beteiligten Parteien noch zustimmen müssen, ist es für uns an der Zeit zu prüfen, ob die damals gegebenen Antworten mit den getroffenen Vereinbarungen deckungsgleich sind.

Zuckersteuer

Zuerst hatten wir im August gefragt, ob mit der jeweiligen Partei in einer Regierung mit einer Zuckersteuer zu rechnen sei. Die SPD bejahte eine solche Abgabe etwas verklausuliert und unverbindlich mit der Kernaussage: „[…] Folgekosten sind gerade bei ungesunden […] Produkten oft nicht miteingepreist. Wir wollen daher eine Preisbildung, die jene Kosten stärker einbezieht und im Umkehrschluss eine gesunde, umwelt- und klimafreundliche Ernährungsweise finanziell attraktiver macht. So könnte zum Beispiel die Überschreitung eines Zucker-Grenzwertes von 5g pro 100ml bei Süßgetränken mit einer Zuckerabgabe für die Hersteller belegt werden…“

Die Grünen gaben sich noch offener und umschifften die Frage ein wenig mit anderen ernährungspolitischen Vorhaben: „[…] Kitas, Schulen, Krankenhäuser, Pflegeheime, Mensen und Kantinen unterstützen wir dabei, mehr gesundes regionales und ökologisch erzeugtes Essen anzubieten. […] Wir brauchen verbindliche Reduktionsstrategien gegen zu viel Zucker, Salz, Fett und Zusatzstoffe in Fertiglebensmitteln und ökonomische Anreize für gesündere Produkte. Den Nutri-Score wollen wir auf EU-Ebene verbindlich einführen.“

Die FDP betonte klar Freiwilligkeit & Prävention und lehnte die Steuer unmissverständlich ab: „Um möglichst große Erfolge zu erzielen, setzen wir auf Überzeugung statt auf Strafsteuern. Wir wollen Kindern und Jugendlichen bereits in Kindergärten, Schulen und in der Ausbildung einen gesunden Lebensstil vermitteln und damit die Verhütung von Krankheiten ermöglichen.“

Ergebnis: Im Koalitionsvertrag wird eine Zuckersteuer gar nicht erst erwähnt, also wird sie wohl in dieser Legislatur auch nicht Thema werden. Da die Ampel sich auf anderen Feldern viel vorgenommen hat, halten wir eine unerwartete Beschäftigung mit dem Thema für unwahrscheinlich. Immerhin hat sich aber etwas beim Werbeverbot für ungesunde Kinderlebensmittel getan. Diese Forderung aus dem Bereich der Diabetes-Organisationen gibt es ja schon lange und auch wenn Hintertürchen in den sozialen Netzwerken drohen (diese werden nicht explizit erwähnt), sind wir doch froh, dass in diese Thematik Bewegung reingekommen ist.
 
Die ebenso angekündigte Weiterentwicklung des Nutriscores halten wir für zu wabbelig, zumal schon jetzt deutlich wird, dass der Nutriscore seine Tücken hat. Fast ausschließlich aus Kohlenhydraten bestehende Weizennudeln erhalten nach der bestehenden Regelung z.B. ein „A“, was sich nicht mit den Erkenntnissen der Ernährungswissenschaft deckt und keinen Aufschluss über eine sinnvolle Einbringung von Nudeln in eine ausgeglichene Ernährung zulässt. Die Nicht-Beschäftigung mit der Zuckersteuer ist ärgerlich, war nach den Antworten aber zu erwarten. Somit decken sich zumindest die Wahlaussagen mit dem Ergebnis. Dies wird uns jedoch nicht hindern, das Thema wieder auf den Tisch zu bringen.

Digitalisierung im Gesundheitswesen

Unsere zweite Frage drehte sich um die Potentiale von Digitalisierung im Gesundheitswesen, mit besonderem Blick auf die Telemedizin. Die Sozialdemokraten antworteten darauf ausführlich mit einem klaren Bekenntnis zu mehr Datensicherheit und einem Ausbau der Möglichkeiten: „Damit all das erreicht werden kann, sind große Investitionen in die digitale Infrastruktur und den Ausbau der Telemedizin nötig. Nur mit entsprechender Förderung wird es gelingen, neuartige E-Health-Anwendungen mit hohem medizinischem Nutzen flächendeckend zu verbreiten.“

Auch die Grünen antworteten mit dem Bekenntnis zur innovativen Nutzung bei gleichzeitiger Verbesserung der Sicherheit: „ […] durch telemedizinische Leistungen können spezialärztliche Versorgungsangebote leichter auch in dünn besiedelten Regionen zugänglich werden, digitale Anwendungen können Therapien oder die Pflege unterstützen, durch Patient*innenakten können Versicherte ihre Gesundheitsdaten anderen Leistungserbringern oder der Forschung zugänglich machen und so die Versorgung verbessern.“

Natürlich gab sich auch die FDP als Partei der Digitalisierung, immerhin war ihr Wahlkampf vom Thema geprägt. Sehr klar formulierte man: „Wir wollen die Digitalisierung im Gesundheitswesen durch klare und transparente Rahmenbedingungen voranbringen. Dazu benötigen wir offene Standards, Interoperabilität und Datensicherheit. Die Vernetzung zwischen allen Gesundheitsakteuren sowie Patientinnen und Patienten muss digital ausgestaltet sein.“

Ergebnis: Große Teile des Vertrages beschäftigen sich mit der Digitalisierung. Ganz deutlich sieht man den Bund beim Ausbau „weißer Flecken“ in der Versorgung mit Breitbandanschlüssen in der Pflicht, auch wenn privatwirtschaftliches Engagement in diesem Bereich weiter Vorrang haben soll. Auch bei der Sicherheit kündigt man einiges an. So sollen das Telemediengesetz und Netzwerksdurchsetzungsgesetz grundlegend in Richtung Bürgerrechte überarbeitet werden und offene Standards gezielt gefördert. Zur Telemedizin hingegen äußert man sich wenig konkret, gibt aber zu Protokoll: „Wir setzen uns für High-Medizintechnik „made in Germany“ ein. Zugleich wollen wir die Potenziale der Digitalisierung nutzen, um eine bessere Versorgungsqualität zu erreichen, aber auch Effizienzpotenziale zu heben.“

Einerseits scheint das sehr engagiert und kompetent, andererseits ist damit Vieles offen. Es bleibt zu hoffen, dass den wohlklingenden Worten konkrete Taten folgen und schon bald die medizinische Versorgung via Telemedizin verbessert wird, ohne dabei die Nutzer gläsern zu machen. Den damaligen Antworten ist man jedenfalls gefolgt und hängt das Thema Digitalisierung allgemein sehr hoch.
 

Stärkung der Patientenbeteiligung

Ganz konkret wollten wir vor der Wahl wissen, wie die Parteien zum Stimmrecht für die themenbezogenen Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) stehen. Die SPD antwortete darauf leider etwas unkonkret mit der Aussage: „Die Erhaltung der Selbstverwaltungsstrukturen im Gesundheitswesen sowie die Stärkung der Bürgerpartizipation an den Entscheidungsprozessen bilden die Basis der medizinischen Versorgung und ermöglichen eine bedarfsorientierte Planung. Wir wollen die Versorgungsstrukturen anpassen und die Mitbestimmungsrechte der Patient*innen stärken.“

Die Aussagen der Grünen hingegen könnte man als ein Ja zum Stimmrecht interpretieren, trotzdem war auch ihre Antwort nicht ganz eindeutig: „[…] Dazu wollen wir die Möglichkeiten der Patient*innen- und Versichertenvertretung in den Gremien des Gesundheitswesens ausbauen, insbesondere auch durch ein eigenes unparteiisches Mitglied im Gemeinsamen Bundesausschuss…“ Alles in allem kann man diese Aussagen aber durchaus als eine gute Grundlage für die Umsetzung des Anliegens ansehen.

Die Freien Demokraten lehnten diese Form von mehr Patienten-Mitbestimmung hingegen recht formal ab und meldeten sich zu Wort mit: „Die vom Gesetzgeber festgelegte (§ 91 SGB V) Struktur des Gemeinsamen Bundesausschusses, sorgt aus unserer Sicht dafür, dass dieses Gremium weitestgehend neutral und sachbezogen arbeiten kann. Sie sollte nicht aufgeweicht werden.“

Ergebnis: Der G-BA soll laut dem Papier reformiert werden und die Unabhängige Patientenberatung (UPD) in eine dauerhafte und „staatsferne“ Struktur überführt werden, zudem der Pflegerat im Gremium gestärkt. Konkret zum Stimmrecht äußert man sich nicht. Leider auch nicht dazu, in welcher konkreten Form der G-BA verändert werden soll. Hier wird es sicher noch spannend und wir werden unsere Stimme hören lassen, wenn es so weit ist.

Fazit

In den untersuchten Punkten enthält der Vertrag einiges Potential, aber auch Mängel aus Sicht der Selbsthilfe und der Patientenvertretung. Die Abkehr von einer Zuckersteuer oder vergleichbaren Maßnahmen, trotz generellem Bekenntnis zur Notwendigkeit von zwei der drei Partner im Wahlkampf ist sicher der augenscheinlichste. Beim Durchsehen des Dokuments sind uns weitere interessante Vereinbarungen ins Auge gefallen, die wir in Kürze näher beleuchten werden. Die Diabetiker Niedersachsen bleiben dran und werden die Umsetzung angekündigter Verbesserungen einfordern.

Download Koalitionsvertrag

 

Das Deckblatt des Koalitionsvertrages mit dem Titel "Mehr Fortschritt wagen"